Die deutsche Fußball-Geschichte wird immer wieder mit Konrad Koch in Braunschweig begonnen. Dabei ist dies lediglich ein Mythos. Ein Mythos, der sich allzu leicht verbreitete hatte. Nicht zuletzt durch einen Kinofilm über Konrad Koch mit Daniel Brühl oder über eine erst im Sommer 2020 ausgestrahlte Dokumentation des TV-Senders NDR.
Die Anfänge des Fußball Sports in Deutschland liegen in Lüneburg.
Der Beginn der deutschen Fußball-Geschichte
Der Fußballhistoriker Hans-Peter Hock stieß bei Recherchen auf einen Artikel der englischen Wochenzeitschrift The Field, the farm, the garden. The country gentleman’s newspaper vom 04.09.1875. Diese berichtete, dass Ende August ein Fußballspiel nach FA Rules an der Schule Johanneum in Lüneburg stattgefunden hat. Zu einer Zeit, als in Braunschweig oder auch Dresden noch nach Rugby-ähnlichen Regeln gespielt wurde. (Denn Konrad Koch führte Rugby in Braunschweig ein, nicht Fußball. Es hieß früher nur beides football.)
Dieser Fußballclub an der Schule von Lüneburg wurde 1874 gegründet und bestand vermutlich nur kurze Zeit, wenngleich es im Jahr 1875 noch weitere Spiele gab. Davon bezeugt nicht nur The Field, sondern auch der Lokal-Zeitung von Lüneburg.
Aber es ist für früheste Nennung eines Fußball-Spiels in Deutschland gespielt wurde.
Protagonisten in Lüneburg waren der deutsche Lehrer Wilhelm Karl Philipp Theodor Goerges (1838–1925) und der junge englische Schüler Richard Ernest Newell Twopeny (1857–1915), der zuvor am Marlborough College zur Schule ging. (Exkurs: Twopeny wanderte im Mai 1876 mit seiner Familie nach Australien aus, wurde dort Journalist und Sekretär der South Australian Football Association.)
Meine Linksammlung für die deutsche Fußball-Geschichte ist hier online.
Die deutsche Fußball-Geschichte – von Engländer*innen begründet
Es waren in Lüneburg und zahlreichen weiteren deutschen Städten vor allem Engländer*innen, die die Football-Spielarten wie weitere Sportarten nach Deutschland brachten. Sie waren Geschäftsleute, Urlaubende, Schüler*innen und Studierende und sie spielten in ihrer Freizeit in Deutschland natürlich ihr liebgewonnenen sports. So kam der Fußball nach Deutschland – und viele weitere Länder der Welt.
Die Reaktion von Braunschweig
Natürlich war man in Braunschweig nicht sehr begeistert über diesen Zeitungs-Fund und den Hinweis darauf, dass jener football, den Konrad Koch in Braunschweig einführte, Rugby war. Ein Irrtum, der durch die deutschen Worte zustande kommt. Das deutsche Wort Fußball meint nur association football. Das englische Wort football bedeutete aber noch bis ins 20. Jahrhundert sowohl association football (➡️ Fußball) als auch rugby football (➡️ Rugby).
So pocht Braunschweig auf Kochs Weitsinn, „Fußball als pädagogische Mittel im Schulalltag“ aufgenommen zu haben. Dabei übersehen sie, dass auch in Lüneburg Fußball (und hier tatsächlich literally football) an der Schule gespielt wurde.
„Wenn in Lüneburg tatsächlich erstmals ein Fußballspiel nach modernen englischen Regeln gespielt wurde, so freut uns das und es ist ein weiterer Beleg dafür, wie fortschrittlich die Lehrer damals in Norddeutschland mit dem damals ja neuen Thema des Ballsports umgegangen sind. Es dürfte ohnehin an vielen Orten in Deutschland in dieser Zeit eine aufkeimende Begeisterung für Ballsport gegeben haben. Dies ändert nichts an der Tatsache, dass auf Initiative des Braunschweigers Konrad Koch, den Fußball als pädagogisches Mittel im Schulalltag aufzunehmen, der lange und erfolgreiche Weg dieser Sportart in Deutschland geebnet wurde. Bis heute zeigt sich dies in dem von ihm formulierten deutschen Regelwerk für den Fußball, aus dem zum Beispiel die bis heute noch gültige Abseits-Regel stammt.“
– Stellungnahme der Braunschweig‘s Stadtmarketing GmbH für den TV-Sender NDR.
Tatsächlich war Braunschweig für die deutsche Fußball-Geschichte nur ein Ort von vielen und Konrad Koch nur eine Person von vielen, in denen der rugby football schnell populär wurde. Doch seine Ansichten wurden am deutlichsten überliefert.
Und weil man es nicht häufig genug wiederholen kann: Konrad Koch hat nicht „den Fußball nach Deutschland gebracht“. Koch hat bis in die 1890er Jahre Rugby (Football) an seiner Schule spielen lassen. Und Rugby wie Fußball wurde schon vorher von englischen Reisenden, …
— Petra Tabarelli (@ClioMZ) September 9, 2020
Geschäftsleuten und Studierenden während ihres Aufenthalts in Deutschland gespielt.
Dass Koch heute so bekannt ist, liegt nicht darum, dass er sich so arg bemüht hat, den Fußball populär zu machen. Er kam nur mit den richtigen und national denkenden Personen zusammen, …— Petra Tabarelli (@ClioMZ) September 9, 2020
die erkannten, dass Fußball/Rugby einen prima Wehrsport hergibt (Einsatz bis zum Schluss, Mannschaftstreue, sonst ist man ein Söldner/kein echter Fan, etc.) Koch hat auch nicht ohne Grund dafür gesorgt, dass es hier deutsche Fußballbegriffe gibt. In der Schweiz oder Österreich…
— Petra Tabarelli (@ClioMZ) September 9, 2020
ist das nicht der Fall.
Das mindert nicht Kochs Engagement. Er war einfach zur richtigen Zeit am richtig Ort und wurde bekannt gemacht. Und er war nicht das einzige und größte, ist aber der am besten Recherchierteste (gute Quellenlage) unter ihnen.— Petra Tabarelli (@ClioMZ) September 9, 2020
Bleibt zu hoffen, dass Lüneburg auf breiter Basis in die deutsche Fußball-Geschichte eingeht, ohne aber Kochs Engagement zu mindern.
Die Quelle
The Field 46, 1875, p. 272:
„Lüneburg College Football Club. – Football has now become quite a popular game here, and the adoption of the Association rules has effected a decided improvement in the last year’s somewhat irregular play here. Out of a school of 600 boys, there is naturally a good deal of good material, and the vigour with which pick-ups have been played since the end of the holidays shows well for the coming season. The school has also secured a new and very good ground close to the town, which was inaugurated on the 28th, by the match Classical v. Modern School. Each side had unfortunately lost two members at almost the last moment, and the game was reduced to nine a side, in spite of which a capital match ensued. Modern won the toss, and, there being little or no wind, chose the top goal, Jochmus kicking off for Classical punctually at 5. At first the ball has a tendency to go out, and in the first twenty minutes did not go near either goal, till a long kick from Twopeny, well followed up by the forwards resulted in a goal kicked out of the scrimmage by Behling. Classical now played up very hard, and made more than one shot at goal. A. Crohen being at last rewarded with success. The ball having been kicked off by Twopeny, he followed it up, and after a short dribble secured a second goal for Modern by a near left-footer. From this point the Modern forwards worked very well together, Clausen’s charging being especially good. Behling, after a nice dribble, made a capital try at goal, the ball hitting the post; and immediately afterwards a fine long kick of Twopeny, who kicked very straight and far throughout, brought him another goal. Modern now entirely assumed the offensive, and were only kept out of the Classical’s goal by F. Jochmus and H. Crohen’s good kicking. Soon afterwards the inattention of the Modern goal keeper resulted in a goal neatly kicked after a short dribble by A. Crohen. The game was now kept pretty even to the end, Twopeny securing an easy goal off a free kick. A capital goal kicked by Kühns just before time was disallowed, as he was off side, and a very pleasant game was ended at 6:30, Modern being left victors by four goals (Behling 1, Twopeny 3) to Classical two (A. Crohen 2).
For Classical the two Crohens, Jochmus, and Kühns are worthy of mention, while for Modern their captain (half back), well backed up by Behling, Clausen, and Waldmeister as forwards, played the best. Altogether the play showed great promise, though the “off-side” rule is not very strictly attended to.
Modern: H. Distel (goal), R. E. N. Twopeny (Marlborough College, captain), and R. Heiptker (half backs), E. V. Clausen, A. V. Behling, H. E. Waldmeister, R. Distel, J. E. Wolfson (Bradford), and W. Hanke (forwards). Classical: F. Jochmus (captain, goal), A. Crohen, and H. Crohen (New York) (half-backs), A. Bever (Bradford), and G. Kühns, Mahlsohn, H. Jochmus, G. Heine, and E. Hanke (forwards).
The following are the committee for the present season: R. E. N. Twopeny captain, F. Jochmus hon. sec., A. Crohen treasurer.”