Da sind sie, die neuen Fußballregeln 2021/2022. Naja, publiziert sind sie noch nicht, aber beschlossen. Eine kurze Zusammenfassung ist aber bereits veröffentlicht worden. Das IFAB hat heute seine Änderungen für die Fußballregeln der kommenden Saison bekanntgegeben. Stichtag für die Fußballregeln 2021/2022 ist der 1. Juli 2021 (nicht wie vorherigen Änderungen zum 1. Juni), aber zuvor schon laufende Wettbewerbe werden noch nach den Regeln 2020/21 weitergespielt. Damit wird auch die Europameisterschaft (m) nach den aktuellen Regeln gespielt werden
Bei der Generalversammlung (AGM = Annual General Meeting) werden die Regeländerungen diskutiert und eingereichte Vorschläge bei Dreiviertelmehrheit beschlossen. Entscheider sind je einen Vertreter der vier britischen Fußballverbände (England, Nordirland, Schottland, Wales) sowie vier der FIFA (die en bloc abstimmen müssen).
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Die Agenda der AGM für die Fußballregeln 2021/2022
Im Vergleich zu den letzten Jahren war die Agenda für die diesjährige Sitzung kurz, beschäftigte sich aber mit der Abseitsregel und dem Handspiel – jenen beiden Elementen der Fußballregeln, die wohl am meisten genannt und diskutiert werden.
Dazu kam noch Diskussionen über die derzeitige, Covid-19-bezogene Möglichkeit von bis zu fünf Wechseln pro Spiel sowie über das bevorstehende Experiment zu Kopfverletzungen.
Proposed changes and clarifications:
(1) Law 12 – Fouls and Misconduct: handball,
(2) Other changes and clarifications
Discussion topics:
(1) Concussion substitutes (trial),
(2) Increased number of substitutes (temporary amendment),
(3) Offside
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Handspiel
Vor gut sieben Monaten habe ich kurz über die Handspielregel philosophiert (sie ist wirklich stark philosophisch). Denn beim Handspiel geht es sehr um Gerechtigkeit. Aber was gerecht ist, das bewertet jeder Mensch anders. Zudem sind die Fußballregeln der Versuch, Fairplay zu standardisieren. Es ist nur allzu logisch, dass durch diese Normierung die verschiedenen, persönlichen Nuancen des Gerechtigkeitsgefühls nivelliert werden.
Ein Handspiel ist in den Fußballregeln 2021/2022 und künftig strafbar, wenn..
- die Bewegung des Armes bzw. der Hand zum Ball geht
- der Körper unnatürlich vergrößert wird, d.h. wenn keine Bewegung der Hand bzw. des Armes keine Folge der Körperbewegung des Spielers für diese spezielle Situation ist oder durch diese vertretbar ist („when the position of their hand/arm is not a consequence of, or justifiable by, the player’s body movement for that specific situation“)
- einem Tor direkt ein absichtliches oder unabsichtliches Handspiel vorausgeht (Berührung reicht). Ein unabsichtliches Handspiel im Vorfeld der regulären Torerzielung wird nicht mehr als Vergehen gewertet.
Im ersten Fall (Bewegung von Arm/Hand geht zum Ball) wird deliberately als bedingter Vorsatz, im zweiten Ball wird deliberately als bewusste Fahrlässigkeit gewertet.
Bedingter Vorsatz und bewusste Fahrlässigkeit sind Begriffe aus dem deutschen Strafrecht. Eine Annäherung an den Begriff deliberately bzw. Absicht aus Sicht des deutschen Strafrechts habe ich vor gut einem Jahr veröffentlicht: Handspiel: Absicht im Licht des deutschen Strafrechts.
Die historische Entwicklung der Handspielregel
Das Handspiel war im Fußball nicht immer verboten. Das gilt insbesondere für die Regelwerke aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, die an das Rugbyspiel erinnern (running game). Aber auch in frühen Regelwerken, die das Handspiel weitestgehend nicht erlaubten gab es zwei Arten von erlaubtem Handspiel.
Eines davon ist auch heute noch erlaubt: Das Handspiel des*der Torhüter*in. Wenngleich es erst 1871 in die FA Rules aufgenommen wurde, war vermutlich schon vorher erlaubt. In den nächsten Jahrzehnten wurden die Regeln immer genauer definiert: Man darf den Ball nicht tragen (1873), man darf in für zwei Schritte tragen (1920) [vier Schritte wurden erst in der Nachkriegszeit erlaubt]. Man darf ihn in nur der eigenen Hälfte mit den Händen berühren (1882), man darf ihn im eigenen Torraum mit den Händen berühren (1903), man darf ihn im eigenen Strafraum mit den Händen berühren (1912).
Das andere Handspiel ist mittlerweile nicht mehr erlaubt: Es war der Fair Catch, den es bis heute im Rugby und American Football gibt. Er wurde 1871 verboten. Ein Fair Catch ist das Fangen eines Balles, bevor dieser den Boden berührt. Hat man im Rugby und American Football dann die Wahl zwischen Fair Catch (Arm heben (früher mit Ferse Markierung in den Boden ritzen), dann Freistoß von dieser Stelle) und dem Laufen mit Ball im Arm, wurde im Fußball nur der Fair Catch übernommen. Es war auch nur über den Fair Catch möglich, einen Freistoß zu erlangen. Erst ab 1874, also drei Jahre nach dem Verbot des Fair Catch, wurde der Freistoß bei Regelverletzungen als Strafe für die missachtende Mannschaft eingeführt.
Ansonsten ist ein Handspiel von Feldspieler*innen war immer verboten.
In Deutschland gibt es immer wieder Diskussionen durch den Begriff der Absicht, der nicht verändert wurde, obwohl der Text im englischen Original (und letztendlich entscheidenden Wortlaut) verändert wurde: Von wilfully (1863) zu intentionally (1898) zu deliberately (1995). Die Entwicklung der Regel ist hier im Abschnitt Handball zu finden.
In den letzten Jahren kam es immer wieder zu Diskussionen über das Handspiel: Zunächst wurde gefordert, das Handspiel verständlicher, konkreter zu gestalten. Dann, es einfacher zu gestalten oder gar die Änderungen von 2019 zu revidieren (so die UEFA).
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Abseits
Zur Abseitsregel gibt es für die Fußballregeln 2021/2022 eine Klarstellung: Ist bei einer Abseitsentscheidung der Arm das vorderste Körperteil, so wird das Lot für die kalibrierte Linie an der Unterseite der Achselhöhle gefällt.
Außerdem informierte die FIFA über mögliche Anpassungen der Abseitsregel durch Innovationen, die es Wettbewerben mit begrenztem Budget erlauben, die VAR-Technologie einzusetzen.
Mehr zur halbautomatisierten Abseitserkennung ist hier beschrieben.
Außerdem aktuelle Informationen zu möglichen Anpassungen der Abseitsregel und zu den neuesten Entwicklungen in Bezug auf Innovationen im Zusammenhang mit Video-Schiedsrichterassistenten (VARs), die es Wettbewerben mit begrenzteren Budgets ermöglichen könnten, die VAR-Technologie einzusetzen.
Kleines Fundstück zum Sonntagabend: Brustwarzenabseits. So wäre 1930 das Abseits bei #fcbrbl genannt worden. (Rosenberger/Hofschneider: Schiedsrichter. Stuttgart 1930. S. 51.) pic.twitter.com/DlHYzli8ne
— Petra Tabarelli (@ClioMZ) May 12, 2019
Keine Regeländerung oder Experiment zur Abseitsregel, nur eine interessante Idee
Arsène Wenger (FIFA Chief of Global Football Development) stellte zudem seinen Vorschlag für eine Änderung der Abseitsregel vor. David Elleray (Technical Director des IFAB) stellte klar, dass es sich nicht um eine Änderung oder Experiment oder eine beorzugte Lösung handele, sondern nur um eine interessante Idee, die man weiterverfolgen könne.
Wenger schlug vor, die Änderung von 1990 (gleiche Höhe ist keine Abseitsstellung) noch etwas aufzuweichen.
„In summary, it is if the attacking player is ahead of the second-last defender but still with one part of the body that can score still in line. So giving the attacking player a bit more room.“
– Dale Johnson, ESPN – Link to the article
Was bedeutet das? Stellt euch vor, ein*e Verteidiger*in in der Rückwärtsbewegung, ein*e Stürmer*in mit dem Oberkörper schon ein Stück weiter nach vorne gebeugt. Nach jetziger Regel wäre die angreifende Person also mit dem Oberkörper im Abseits. Ist aber ein Fuß (theoretisch Zeh) der beiden Personen auf gleicher Höhe, liegt kein Abseits vor. Das bedeutet ein noch offensiveres Spiel.
Ein noch offensiveres Spiel
Änderungen der Abseitsregeln haben einen Einfluss auf das Offensivspiel wie keine andere Regel. Als 1925 nur ein Wort geändert wurde – von „weniger als drei Spieler“ zu „weniger als zwei Spieler“ – fielen alleine in England in einer Saison hunderte Tore mehr. So ist es kein Wunder, das überlegt wurde, die Abseitsregel zu ändern, um das Spiel offensiver und damit attraktiver für Zuschauer*innen zu machen. Es gab zudem bereits neun verschiedene Experimente zur Abseitsregel in den letzten gut 150 Jahren, die allesamt nicht Teil der Regel wurden.
Bei der diesjährigen Soccerex gab es ein Panel mit unter anderem Howard Webb zu dem Thema: Changing Offside to keep fans Onside (mit Link zur Aufnahme des Panels auf Youtube).
Die historische Entwicklung der Abseitsregel
Sind die Regeln der Dreh- und Angelpunkt sowie die Grundessenz des Fußballspiels, dann ist die Abseitsregel ein Konzentrat der Essenz. Mehrfach habe ich hier und an anderer Stelle über die Entwicklung des Abseits‘ geschrieben, zuletzt für die Schiedsrichter-Zeitung (Ausgabe 02/2021) – hier online, öffentlich zugänglich.
Dazu weitere Beiträge hier auf Nachspielzeiten wie hier über den Ursprung der Abseitsregel und ihre erste Entwicklung.
Was ist der Sinn und Zweck der Abseitsregel?
Die Abseitsregel ist nicht nur eine gerechtere Variante als kein oder ein striktes Abseits, sie ist auch eng mit der Standardisierung der Fußballregeln über Ländergrenzen hinweg verbunden. Diese Standardisierung wurde durch den Fußballboom der 1880er Jahre in England nötig, in Maßen vergleichbar mit den 1920er Jahren in Deutschland. Der Standardisierung geht der Wandel des Fußballspiels vom Unterhaltungsspiel zum Wettbewerb voraus: Das Fußballspiel wurde von verschiedenen Unternehmern und Berufsgruppen als Einnahmequelle erkannt. Es ging nun um den Sieg, um Einnahmen, um Prestige – und damit begann auch das „Cheaten“.
Man könnte sagen: Die Abseitsregel ist im modernen Fußball ebenso nötig wie ein*e unabhängige: Schiedsrichter*in auf dem Platz. Es reicht nicht mehr, dass wie bei uns früher auf dem Schulhof man kurz ausdiskutiert, ob das jetzt ein Foul, Handspiel oder Abseits war, und dann weiterspielt.
Wir sehen anhand der Abseitsregel aber auch, wie sich Regeln und Spiel gegenseitig beeinflussen: Die Regeländerung 1866 bei der FA beeinflusste das Spiel zum Kombinationsspiel. Das später zu defensiv empfunden wurde, weshalb man als Konsequenz die Regel änderte.
Alle Änderungen der Abseitsregel seit 1847 hier.
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Ein Experiment: Zusätzlicher Wechsel bei Kopfverletzungen
Bereits bei der letztjährigen AGM wurde es diskutiert: Der Umgang mit Kopfverletzungen. Meistens entstehen sie, weil Spieler*innen im Luftduell mit den Köpfen gegeneinander stoßen. Nicht selten haben die Spieler*innen anschließend mit Symptomen zu kämpfen, die denen einer Gehirnerschütterung gleichen. Doch nur selten werden sie ausgewechselt, obwohl sie mehrere Sekunden mit dem Gleichgewichtssinn kämpfen. Das gilt insbesondere im Männerfußball. Für den Männerfußball führt deshalb Rasenfunk-Moderator Max Ost auf Twitter eine Dokumentation.
Kopfverletzungen und der Umgang damit in der Saison 20/21. Wird ein Thread, freue mich über Hinweise.
— Max-Jacob Ost (@GNetzer) September 20, 2020
Wie versucht man nun, die Gesundheit der Spieler*innen zu schützen? Das beschreibt der IFAB auf seiner Homepage ausführlich.
Variante 1 („Protocol A“): Liegt der Verdacht auf eine Gehirnerschütterung vor, ist pro Mannschaft ein zusätzlicher Wechsel möglich, der nicht auf das ursprüngliche Wechselkontingent angerechnet wird.
Variante 2 („Protocol B“): Unter den genannten Umständen sind pro Mannschaft zwei zusätzliche Auswechslungen möglich. Jedes Mal bekommt dann das gegnerische Team ebenfalls einen weiteren Wechsel. Das soll mögliche sportliche Nachteile ausgleichen und einen Missbrauch der Regel unattraktiver machen.
Quelle: Chaled Nahar/sportschau.de – Direktlink zum Beitrag
Bereits seit Jahresbeginn wird das Experiment durch die Fußballverbände der Niederlande, England, Portugal und USA durchgeführt. Die FIFA testete es zudem während ihrer Klub-WM im vergangenen Monat. So wurde dem Gremium ein Bericht über die ersten Erfahrungen mit den beiden Varianten vorgelegt.
Weitere könnten im Sommer folgen, da von anderen Verbänden bereits Interesse bekundet wurde. Das Ende der Testphase ist für August 2022 geplant. Dieses Experiment ist aber nicht Teil der Fußballregeln 2021/2022
Die DFL hat sich nicht zu einer Teilnahme entschlossen. Da sie diese Entscheidung mit dem Hinweis auf die bis 2022 möglichen fünf Wechsel begründet, vermute ich, dass sie auch im Sommer bei dieser Entscheidung bleiben wird.
Historische Entwicklung
Der Kopfball wurde es erst Ende des 19. Jahrhundert mehr und mehr üblich. Es ist nicht belegt, dass sich der Kopfball etablierte, weil der Fair Catch (siehe oben den Abschnitt „Historische Entwicklung“ unter Handspiel in diesem Beitrag) verboten wurde. Aber es passt zeitlich.
Allzu viele Diskussionen über die Konsequenzen von schmerzhaften Kopfballduellen gibt es tatsächlich nicht, dafür aber über die Konsequenz von Kopfbällen ganz allgemein. Früher musste der Ball aus Leder sein. Die Luftblase wurde mit Lederstücken umhüllt, die mit einem Faden zusammengenäht waren. Fußball, ein traditionelles Spiel für die kühleren Monate, wurde daher auch bei nass(er)em Wetter gespielt, wodurch sich das Leder und die Fäden mit Wasser vollsogen. Zwar hat sich das vorgeschriebene Gewicht des Balles seit 1937 nicht mehr verändert (410-450 Gramm/14-16 Unzen), aber es gilt zu Beginn des Spieles. So diskutierte man vor 100 und mehr Jahren über die Konsequenzen der schwerer geworden Kopfbälle, wollte sie gar verbieten. Dazu kam es aber nie.
Alles zu den neuen Fußballregeln 2021/2022 auf der Homepage des IFAB.