Regelgeschichte

Handspiel: Absicht im Licht des deutschen Strafrechts

Handspiel und Absicht

❗️Wichtig: Dieser Text behandelt die englischen Begriff wilfully, intentionally und deliberately, die in den deutschsprachigen Fußballregeln in Bezug auf das Handspiel mit Absicht bzw. absichtlich übersetzt werden. Es ist keine sportrechtliche Abhandlung, keine Regelauslegung, sondern lediglich mein Versuch, die Abstufungen der englischen Begriffe im deutschen Strafrecht zu verorten.
Das ist gar nicht so eindeutig, weil es im deutschen Strafrecht kein genaues Pendant zu deliberately gibt.

Ich danke an dieser Stelle Juristin Christina Wohlgemuth sehr für Ihre Hilfe!

„Die Absicht ist wesentlicher Bestandteil für das Urteil“ – dieser Satz aus einer Schiedsrichter-Zeitung um 1930 galt damals und heute nicht nur für die Handspielregeln, sondern auch unfaires Spiel und die Unterscheidung in passives und aktives Handspiel. Er eröffnet die Möglichkeit des Ermessens oder – in Fußballsprache – des Ermessensspielraumes. Bestrafen oder nicht bestrafen, das ist hier die Frage und die Ursache für zahlreiche Diskussionen. Als außenstehende Person kann man nicht beurteilen, ob eine Person bewusst oder unbewusst, wissentlich oder unwissentlich über den Ausgang der eigenen Handlung etwas tat.

Der deutsche Begriff „Absicht“ beim Handspiel blieb über all die Jahrzehnte bestehen, während in der rechtsrelevanten englischen Form drei verschiedene Begriffe verwendet wurden: wilfully, intentionally und deliberately. Und diese drei Begriffe lassen sich zwar alle mit „absichtlich“ übersetzen, unterscheiden sich aber in dem Grad der bewussten Handlung. Eine Unterscheidung, die auch das deutsche Strafrecht und Zivilrecht kennt: Vorsatz und Fahrlässigkeit, die wiederum unterteilt werden. Das Wort „Absicht“ wird gar nicht verwendet – ist aber durchaus gemeint.

Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht und Zivilrecht

Die entsprechenden juristischen Quellen zum Bereich Vorsatz und Fahrlässigkeit sind die folgenden Paragrafen:

  • Strafgesetzbuch, § 15 (Vorsätzliches und fahrlässiges Handeln)
  • Strafgesetzbuch, § 16 (Irrtum über Tatumstände)
  • Ordnungswidrigkeitengesetz, § 10 (Vorsatz und Fahrlässigkeit)
  • Bürgerliches Gesetzbuch, § 276 (Verantwortlichkeit des Schuldners)
  • Bürgerliches Gesetzbuch, § 277 (Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten)

Eine knappe Zusammenfassung des Inhalts:

  • nur vorsätzliches Handeln ist strafbar. Außer, für fahrlässiges Handeln wird ausdrücklich eine Strafe androht; also mit Opt-in-Funktion (Strafgesetzbuch, § 15 und Ordnungswidrigkeitengesetz, § 10)
  • wenn die Tatperson einer Fehlvorstellung unterliegt, lässt man die Strafbarkeit fallen (Strafgesetzbuch, § 16) (Als Beispiel: Einer Person ist klar, dass das Schießen auf eine andere Person diese töten kann, denkt aber, sie schießt auf eine Puppe statt einen Menschen.)
  • wer eine Fehlvorstellung hat, kann zwar vorsätzlich handeln, aber kann nur nach milderem Gesetz bestraft werden (Strafgesetzbuch, § 16)
  • Fahrlässigkeit ist das Außerachtlassen der verkehrsüblichen Sorgfalt (Bürgerliches Gesetzbuch, § 276, Abs. 2)

Um vorsätzlich zu agieren, muss man über die Konsequenzen wissen und diese wollen oder billigend in Kauf nehmen. Das heißt, man muss die Verwirklichung des Straftatbestandes bzw. den Eintritt des Taterfolges zumindest für möglich halten. Fahrlässigkeit entsteht durch eine unvorsichtige oder verantwortungslose Handlung durch fehlende Sorgfalt. Eine fahrlässig handelnde Person hat im Gegensatz zu einer vorsätzlich handelnden Person nicht das Ziel oder Wissen, gegen das Recht verstoßen.

(Der juristenlateinische Begriff für Fahrlässigkeit ist luxuria, was neben Luxus/Überfluss auch Übermut bedeutet, der für mich viel greifbarer ist und den ich deshalb im Folgenden immer wieder als Synonym für die Fahrlässigkeit verwenden werde.)

Vorsatz und Fahrlässigkeit unterteilt man juristisch in fünf Abstufungen:

  • die Tat zielt nur darauf ab, eine rechtswidrige Handlung zu begehen (Vorsatz -> „Dolus directus 1. Grades“/“Absicht“)
  • die Tat wird ausgeführt, obwohl die Tatperson weiß, dass die Handlung zu einer Rechtsverletzung führt (Vorsatz -> „Dolus directus 2. Grades“/“100% Wissenselement“)
  • die Tat wird ausgeführt, obwohl die Tatperson nimmt den Eintritt des Taterfolges mindestens billigend in Kauf und weiß, dass eventuell die Handlung zu einer Rechtsverletzung führen könnte – und dass das nicht unwahrscheinlich ist (Vorsatz -> „Dolus eventualis“/“Eventualvorsatz“/“bedingter Vorsatz“)
  • die Tat wird ausgeführt, obwohl die Tatperson weiß, dass eventuell die Handlung zu einer Rechtsverletzung führen könnte – hält diese Konsequenz aber für unwahrscheinlich (Fahrlässigkeit -> „bewusste Fahrlässigkeit“)
  • die Tat wird ausgeführt, weil die Tatperson aus Übermut davon ausgeht, dass die rechtswidrige Konsequenz nie und nimmer eintrifft (Fahrlässigkeit -> „unbewusste Fahrlässigkeit“)

Die Grenze zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit 

Die Grenze zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit ist die Grenze zwischen Übermut und dem bedingten Vorsatz (um den sperrigen Begriff des Eventualvorsatzes nicht zu verwenden). Und die Unterscheidung liegt allein darin, ob die Tatperson mit dem Eintreffen der rechtswidrigen Konsequenz rechnet oder nicht. „Ich will den Erfolg zwar nicht, nehme aber in Kauf, dass es passieren kann.“

Mit Übermut kennt die Tatperson zwar die Gefahr, vertraut aber mit Ernsthaftigkeit darauf, dass nichts passieren wird. Beim Vorsatz nimmt die Person Konsequenzen in Kauf.

Und, da haben wir wieder das Problem, das kann niemand außenstehendes wissen. Die Abgrenzung hängt vom inneren Willen ab. Von „Es wird schon nichts passieren.“ versus „Ich hoffe zwar, dass nichts passiert, falls aber doch, so geschieht es eben.“

Das ist die erste Krux.

Vorsatz und Fahrlässigkeit in Bezug auf die Absicht beim Handspiel

Zurück zum Fußball und den Adverbien wilfully, intentionally und deliberately. Bei den ersten beiden brauchen wir nicht lange zu philosophieren, hier geht um nur um vorsätzliches Handeln 1. und 2. Grades. In wilfully steckt „voller Wollen“, in intentionally die Intention, das „Darauf-Abzielen“. Deliberately dagegen ist das Abwägen (libera -> Waage).

Juristisch ausgedrückt: Deliberately/Abwägen ist das kognitive Element, das Wollen/Darauf-Abzielen das voluntative Element. Bei dem ersten steht das Denken im Vordergrund und geht der Tat voraus, beim letztens ist es der reine Handlungsdrang.

Und das deutsche Wort Absicht wird vor allem mit dem voluntativen Element verknüpft.

Das ist die zweite Krux.

Denn obwohl mit dem Wechsel 1995 von intentionally zu deliberately in den Regeln der Wechsel vom voluntativen zum kognitiven Element, stattfand, wurde die Absicht gelockert. Das wurde kommuniziert, doch hat sich wenig verändert.
Diskutiert wird vielmehr über die Beweis/Auslegungen, die man heranzieht, um die Wahrscheinlichkeit des Fehlverhaltens abzuwägen. So reichte es nicht mehr aus, dass der Arm zum Ball geht. Statt dessen reicht es aus, dass der Ball nicht nah am Körper ist und die Spielerin bzw. der Spieler so billigend in Kauf nimmt, ein Handspiel zu begehen.

Diese Schilderungen sind alles Beispiele für den bedingten Vorsatz, denn es geht um das nun viel genannte billigend in Kauf nehmen. Aber wie ist das mit der Fahrlässigkeit?

Im Strafgesetzbuch und im Ordnungswidrigkeitengesetz wird die Fahrlässigkeit als Opt-In-Verfahren genannt: Fahrlässigkeit ist nur dann strafbar, wenn das Gesetz explizit das benennt: Ja, auch übermütige Handlungen werden bestraft. Ist das in den Spielregeln, den Laws of the Game, auch so? Nein, müssen sie aber auch nicht, denn sie sind kein Gesetz, nicht mal eine Verordnung, sondern schlicht ein Regelwerk.

Aber das Regelwerk macht dennoch deutlich, dass es auch Fahrlässigkeit für bestrafenswert erachtet. Warum? Eine andere Übersetzungsmöglichkeit des englischen Wortes für Fahrlässigkeit, negliance, ist der der Unachtsamkeit. Und ein Handspiel, ein Foul oder eine Abseitsstellung, die aus Übermut oder Unachtsamkeit geschieht, wird üblicherweise bestraft. Fahrlässigkeit wird also mittlerweile als Opt-In-Verfahren in die „Laws of the Game“ integriert: Ein Arm, eine Hand über Schulterhöhe ist immer ein Handspiel. Es ist somit auch die bewusste Fahrlässigkeit im Fußball strafbar. Es ist auch dann ein Handspiel, wenn die Tatperson aus Übermut davon ausgeht, dass es schon nicht passieren wird.

Ein kleines Fazit

Zu dieser Änderung von intentionally zu deliberately kam es, weil die erste Krux (man kann niemandem in den Kopf sehen) schlicht nicht lösbar ist. Denn das macht das Differenzieren zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit praktisch unmöglich. Man umging diese Krux, indem man auch die Fahrlässigkeit teilweise strafbar machte.

Ob es sinnvoll ist, auch bewusste Fahrlässigkeit im Fußball zu bestrafen, das kann ich an dieser Stelle nicht debattieren. Ich habe nie Fußball gespielt und weiß nicht, ob man nicht trainieren kann, beim Hochspringen die Arme nicht mehr intuitiv hochzuziehen [Anm, 05.12.2021: Dieser Beitrag bezieht sich auf die Regeländerung des Handspiels zur Saison 2019/20. Zur Saison 2020/21 gab es wieder eine Regeländerung.].

Und der nächsten Person, die in eurem Umfeld protestiert „Das war doch nie und nimmer Absicht!“ könnt ihr entgegen „Das vielleicht nicht. Aber Nachlässigkeit!“

Mehr zur Entwicklung des Handspiels hier auf Nachspielzeiten in der Chronologie von Regel 12. Ergänzend dazu die Fußballregeln 2019/20 in englischer Sprache.

 

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