Es gibt keine Schutzhand. Es gibt sie nicht und es gab sie nicht. Das wiederholen Collinas Erben, Alex Feuerherdt und Klaas Reese, auch in Folge 99 abermals.
Ich erinnerte mich beim Hören, dass der Begriff in einer der Schiedsrichter-Zeitungen, die ich durchgesehen hatte, vorkam und fand in meinen Notizen, dass der Begriff um 1930 aufgekommen zu sein scheint.
Woher genau, das vermag ich nicht zu sagen. In Schiedsrichter-Zeitungen von 1929 und 1930 wird dieser Umstand noch umschrieben: Die Regeln kennen keine „Reflexhandlungen“ oder „Reflexbewegungen“ und wer die Hand oder die Hände schützend vor das Gesicht hält, riskiert ein absichtliches Handspiel, denn man sich auch hätte wegdrehen oder ducken können. Lediglich die Hände vor den Eingeweiden war erlaubt („unabsichtliches Handspiel“).[1]Vgl. für 1929: NN: Vom grünen Tisch. In: Deutsche Schiedsrichter-Zeitung 11 (1929), 01.07.1929. S. 5 und für 1930 einmal NN: Aus der Fußball-Praxis. In: Deutsche Schiedsrichter-Zeitung 12 (1930), … Continue reading
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Erstmals wird in der DFB-Schiedsrichter-Zeitung 1931 der Begriff Schutzhand verwendet (Deutsche Schiedsrichter-Zeitung und DFB-Schiedsrichter-Zeitung wurden zum Oktober 1931 zusammengelegt), wenngleich der damalige Nationalmannschaftstrainer und Verfasser des Beitrags, Otto Nerz, diese Bezeichnung nur zitiert und offensichtlich vorher nicht kannte. Er beschreibt einen Fall, in dem ein deutscher Schiedsrichter namens Weingärtner bei einem Länderspiel zwischen Schweden und Norwegen auf Schutzhand entscheidet und im Nachhinein im Interview erklärt, das sei in Deutschland so üblich. (Spoiler: War es nicht.)
Nerz stellte klar, dass es in den Regeln den Begriff Schutzhand nicht gäbe. Er erklärte aber dann im Widerspruch zu Berichten in der DSZ von 1929 und 1930, dass der Schiedsrichter auf Schutzhand entscheiden könne, wenn er sich 100% sicher sei, dass keine Absicht vorliege. Und auf diese Weise manifestierte er – vielleicht prominenter als das Interview Weingärtners im schwedischen Idrottsbladet – den Mythos, dass ein unabsichtliches Hochnehmen der Hände vors Gesicht nicht als absichtliches Handspiel gewertet werden sollte, sondern als Schutzhand.
Es zeigt aber anhand der Argumentation von Weingärtner und Nerz auch, dass die Diskussionen über das Handspiel sich in den letzten 90 Jahren keineswegs geändert haben.
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Hier der Teil von Nerz‘ langem Beitrag zur Schutzhand im Wortlaut:[2]Zitiert aus: DFB-Schiedsrichter-Zeitung 13 (1931, 01.11.1931. S. 233-235. hier S. 233-234.
Zur Praxis des internationalen Schiedsrichters. „Schutzhand“ Made in Germany
Von Reichstrainer Otto Nerz.
Weingärtner – Offenbach schiedsrichterte am 27. September in Oslo den Länderkampf Norwegen – Schweden. Norwegen siegte knapp, aber verdient. Die Kritiken über W. sind sehr kurz, so daß man annehmen kann, daß er zumindest keine störenden Entscheidungen getroffen hat. Ein Fall veranlaßte aber ein Interview Weingärtners durch den Vertreter des „Idrottsbladet“ – Stockholm, der mit „R:et“ zeichnet. Auf dem Felde hatte sich folgendes begeben: Ein norwegischer Verteidiger stoppte einen Schuß des Gegners mit beiden Händen vor der Brust und stoß den niederfallenden Ball weg (laut Idrottsbladet). Die schwedischen Stürmer blieben stehen und erwarteten eine Entscheidung des Schiedsrichters. Weingärtner ließ aber das Spiel weitergehen. Nach dem Spiel erklärte er Herrn „R:et“:
„Wir haben in Deutschland den Begriff ‚Schutzhand‘. Wenn z. B. ein Ball einem Spieler ins Gesicht zu fliegen droht und der Spieler, um sich zu schützen die Arme hebt, also
allein in der Absicht sich zu decken
und nicht um die Richtung des Balles zu ändern, so bezeichnen wir solches Handspiel als ‚Schutzhand‘. Dies war auch hier der Fall, als der linke norwegische Verteidiger reflektorisch den Arm hob.“
Soweit das „Idrottsbladet“ und unter dessen Verantwortung auch Herr W. Dazu wäre verschiedenes zu sagen. Der Journalist spricht von beiden Händen, Weingärtner von einer Hand. Das ist natürlich schon wesentlich. Denn in seinem Artikel stellt es Herr „R:et“ so dar, als ob der Norweger einfach den Ball mit beiden Händen „vor der Brust“ abgestoppt und den niederfallenden Ball ins Feld zurückgestoßen habe. Diese Reflexbewegung könnte auch bei einer weitherzigen Auslegung des Begriffes „Schutzhand“ nicht ohne weiteres passieren.
Dann gilt aber der Begriff „Schutzhand“
keineswegs so allgemein
und in einer derartigen Ausdehnung. Weder der amtliche Text, noch die „Amtlichen Entscheidungen“, oder die „Ausführungsbestimmungen des DFB“ kennen diesen Begriff. Es mag sein, daß zu Lehrzwecken irgendwo dieser Ausdruck weitere Verbreitung gewonnen hat, aber so weitgehend kann dies kaum sein, und wenn es der Fall wäre, dann wäre es Irrlehre. In Zweifelsfällen müssen wir immer wieder auf den Text zurückgehen. Da ist es kein Zweifel, daß der Begriff „Schutzhand“ sich keineswegs immer mit „Nicht absichtlich“ deckt. Auch ist es sehr wohl möglich, daß man schützende Bewegungen mit absichtlichem Handspiel verbindet. Wenn der Schiedsrichter sich immer mehr vom Text der Regel entfernt, dann kommt er sicher zu Entgleisungen. Diese Gefahr besteht besonders beim Lehrbetrieb, wo man im Interesse des leichten Verständnisses und einer kurzen Darbietung leicht zu Verallgemeinerung, zur Standardisierung kommt. Man arbeitet dann ganz unwillkürlich
mit diesen neu gewonnen Begriffen,
statt mit dem Regeltext. So geht es dann schrittweise abwärts. Die Instruktoren der Schiedsrichter müssen sich diese Gefahr recht deutlich vor Augen halten. Immer wieder muß unsere Richtschnur der Text der Regel sein.
„Schutzhand“ kann also nur dann ungestraft passieren, wenn der Schiedsrichter überzeugt ist, daß es wirklich nur eine Reflexbewegung – also eine unabsichtliche – war. Sicherlich kann man bei Gefahr des Getroffenwerdens sehr oft ausweichen. Oft kann man den Kopf ebenso schnell wegnehmen, als man in etwa die Hand erheben könnte. Sicherlich ist es oft nur schwer zu entscheiden, ob das Handspiel absichtlich oder unabsichtlich war. Und das ist das Wesentliche.
Nicht „Schutzhand“, sondern „absichtlich“ oder „unabsichtlich“!
Wenn Weingärtner dem Frager erklärt hätte: Ich hielt das „Hand“ für unabsichtlich und ließ daher das Spiel weitergehen, dann hätte der Kritiker wohl anderer Meinung sein können, aber es wäre ihm nicht möglich, auf sportlicher Basis weiter zu diskutieren. So aber fügte er als Kommentar eine ironische Bemerkung über den Phantasiereichtum der Regelausleger in den verschiedenen Ländern hinzu.
Ich bespreche die Angelegenheit nicht etwa, weil ich dem Kritiker recht gebe, sondern weil der „Fall“ ohne Zweifel über die ganze Welt getragen werden wird, da das „Idrottsbladet“ eine sehr bedeutende Sportzeitung ist. Für Schiedsrichter, die internationale Länderspiele oder andere internationale Spiele zu leiten haben, ergibt sich aber die Mahnung:
Lehne dich nur an den Text an!
Das ist bei uns jetzt leicht, da unser DFB.-Text eine gute Uebersetzung des offiziellen Regeltextes ist. Sei dir klar, daß sich nicht alles aus der heimischen Schiedsrichterpraxis ohne weiteres auf [Seitenwechsel auf S. 234] internationale Verhältnisse übertragen läßt. Man gewöhnt sich zu Hause unter gewissen Umständen allmählich Dinge an, die sich eigentlich nicht vertreten lassen. Im internationalen Verkehr rächt sich dies. Der internationale Schiedsrichter – oder der es werden will – darf nicht zu einem Routinier werden. Er muß vielmehr ständig an sich arbeiten und aus seinen Fehlern lernen.
Die „Schutzhand“ wird vermutlich noch länger diskutiert werden.
Fußnoten
↑1 | Vgl. für 1929: NN: Vom grünen Tisch. In: Deutsche Schiedsrichter-Zeitung 11 (1929), 01.07.1929. S. 5 und für 1930 einmal NN: Aus der Fußball-Praxis. In: Deutsche Schiedsrichter-Zeitung 12 (1930), 15.01.1930. S. 3 sowie NN: Quer durch die Regelfragen. Betrachtung zu aktuellen Fällen. In: Deutsche Schiedsrichter-Zeitung 12 (1930), 01.05.1930, S. 3-4, hier S. 3. |
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↑2 | Zitiert aus: DFB-Schiedsrichter-Zeitung 13 (1931, 01.11.1931. S. 233-235. hier S. 233-234. |
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