Regelgeschichte

Zwei Schiedsrichter auf einem Spielfeld

Foto: twitter/@bayerndusel

VAR – Ein Akronym, das manchen Fan, Spieler:in oder Teamoffiziellen direkt auf die Palme bringt. Dass das Amt nicht mehr rückgängig wird, ist vielen klar und so kursiert neben den Vorschlägen, wie man seine Kompetenzen ändern könnte auch der Vorschlag, stattdessen einen zweiten Schiedsrichter auf dem Spielfeld einzuführen.

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Gar nicht neu

Das klingt nach einer plausiblen Idee, die es lohnt, durchdacht zu werden.
Dachte ich … bis ich bemerkte, dass diese Idee gar nicht so neu ist.
Seit dem 19. Jahrhundert wurde bereits wiederholt diskutiert und ausprobiert, das Spiel mit zwei Schiedsrichtern auf dem Feld zu leiten. Gründe waren einerseits auch damals, die Pausen für Entscheidungen schneller zu machen und andererseits, um noch ein „Back-up“ zu haben, um Fouls zu bestrafen, die bei anderen Spielen weder der (einzige) Schiedsrichter:in noch seine Schiedsrichterassistent:innen bemerkten.

1920-1921

Bereits vor dem ersten Weltkrieg diskutiert, wurde das Zwei-Schiedsrichter-System direkt nach ihm in Deutschland getestet. Vor etwa 100 Jahren wurde Fußball in Deutschland zum Massenphänomen. Im Krieg hatten Soldaten das vom Militär als Wehrsport geförderte Spiel als Zeitvertreib während der zahlreichen Kampfpausen kennen- und lieben gelernt. Das führte nur zu einem großen Mangel an erfahrenen Schiedsrichtern mit umfassender Regelkenntnis. Zudem war das Verhalten auf den Rängen sehr rauh: Es wurde populär, während des Fußballspiels den Aggressionen und Emotionen freien Lauf zu lassen, die man ansonsten aufstaute. Die teils schlechten Leistungen der Schiedsrichter mangels Regelkenntnis oder geeigneter Persönlichkeit taten ihr Übriges.

In dieser Zeit kam die Idee mit zwei Schiedsrichtern gelegen. Im Sommer 1920 berichtete der Berliner Schiedsrichter Johannes Müller in der Deutschen Schiedsrichter-Zeitung über ein solches Experiment mit zwei Schiedsrichtern, aber ohne Schiedsrichterassistenten (die damals über nur wenige Kompetenzen verfügten, u.a. nicht das Bewerten und Anzeigen einer aktiven Abseitsstellung). Anpfiff und Wiederanpfiff teilten sich die Schiedsrichter auf, der Wiederanpfiff nach einem Tor wurde durch jenen Schiedsrichter getan, auf dessen Seite zuvor der Tor erzielt worden war. Zur Halbzeit wechselten auch die Schiedsrichter die Seite.

Müller berichtet auch, dass jeglicher Skeptiker eines besseren belehrt wurde und 200% mehr Fouls festgestellt und geahndet werden konnten. Auch die Reaktionen von Lesern der Deutschen Schiedsrichter-Zeitung war vorwiegend positiv.

Genannte Vorteile:

  • mehr Personal, da Schiedsrichterassistenten als Schiedsrichter eingesetzt werden können – oder erfahrene Schiedsrichter aus der Vorkriegszeit (2x)
  • Verringerung der Disziplinlosigkeit bei Spielern und Publikum
  • hilft Schiedsrichtern, die keine gute Fitness haben
  • Publikum weiß genauere Entscheidungen zu schätzen und nimmt dafür gerne häufigere und längere Unterbrechungen in Kauf [I’m not kidding, das ist tatsächlich ein 100 Jahre altes Statement]
  • Leistungssteigerung / Verringerung der Fehlerquote bei Schiedsrichtern

Genannte Nachteile:

  • Personalmangel, da viele Schiedsrichterassistenten keine ausgebildeten Assistenten sind, sondern Teamoffizielle (2x)
  • starker Unterschied in Regelauslegung innerhalb Deutschlands
  • Probleme bei Zusammensetzung der Schiedsrichterpaare, die ja auch in ihrer Auslegung möglichst perfekt zusammenpassen müssen, damit sie sich vor dem Spiel auf eine Linie einigen können. Diskussionen an der Mittellinie stärken nicht das ohnehin schwache Standing der Schiedsrichter (4x)
  • fehlende Teamfähigkeit bei manchen Schiedsrichtern

Verbesserungsvorschläge / Andere Vorschläge

  • Schiedsrichterassistenten mit wesentlich mehr Kompetenzen versehen, so wie bereits (1920) in England und den Niederlanden (2x)
    „Da unterstützen die Linienrichter tatsächlich den Schiedsrichter, indem sie bei dem kleinsten Fehler, beim geringsten Vergehen die Fahne heben und dem Leiter wertvolle Anhaltspunkte geben. In Deutschland hat der Linienrichter das größte Interesse daran, die Leistungen des Spielers seines eigenen Vereins zu beobachten, wobei die Fehler und Schärfen manchmal noch innerlich bejubelt werden.“ (Paul Schröder, Mönchengladbach. Kommentar im Artikel: Carl Koppehel: Zum Zwei-Schiedsrichter-System. In: Deutsche Schiedsrichter-Zeitung 9/1920. S. 31-33, hier S. 32).
  • zwei Schiedsrichterassistenten je Seite, also insgesamt vier (3x)
  • Schiedsrichter wie beim Tennis auf Höhe der Mittellinie auf erhöhtem Posten – wird aber direkt verworfen, da diese Sicht noch ungünstiger ist, da gerade über Vorkommnisse im Strafraum und nahe des Tores noch schwieriger wird und der Kontakt zu den Spielern fehle
  • nur Schiedsrichter einsetzen, die dazu befähigt sind: Selbstbewusstsein, Regelkenntnis, Menschenkenntnis

Weitere Berichte zeigen, dass auch 1921 das System getestet wurde. Eine Erlaubnis des IFAB war nicht nötig, da die FIFA zu diesem Zeitpunkt nicht Teil des Gremiums war. Zudem übernahm der DFB zwar die Laws of the Game, sortierte sie aber nach ihrem Gusto und legte sie zum Teil anders aus.

Fazit:

Letztendlich scheiterte die Umsetzung an dem tatsächlichen Personalmangel und auch an mangelnder Zustimmung.

1935

In England wurde 1935 ein Testspiel in Chester mit den sehr erfahrenen Schiedsrichtern A. W. Barton und E. Wood durchgeführt.

Fazit:

Auch in England zog man ein äußert positives Fazit. In der FA sollte 1937 erneut das Zwei-Schiedsrichter-System getestet, um das rohe Spiel zu unterbinden, doch Experimente wurden durch das IFAB nicht erlaubt. Das Experiment 1935 hatte auch vor Augen geführt, dass man durch einen zweiten Schiedsrichter natürlich auch doppelt so viele Kosten hatte. „They placed themselves in both halfs so that each one of them was always in the immediate vicinity of the ball. The first impressions were quite positive but in spite of it the experiment was cancelled.“ (Quelle: [Furrer, Günter:] Football History, Laws of the Game, Referees. A FIFA publication on the occasion of the 100th Anniversary of the International Football Association Board. [Zürich, 1986.] S. 176.)

Charles Sutcliffe fasste ausführlicher zusammen (Charles Sutcliffe/J. A. Brierley/F. Howarth: The Story of the Football League. 1888-1938. Preston 1938. S. 40):

„The sense of the clubs’ feeling on the subject was taken at the League’s Annual Meeting on 3rd June, 1935, when Mr. Cuff, on behalf over Everton, made the following points in putting the case for the reform:

  1. Referees were not up with play due to the development of the game in the last few years, hence their decisions frequently gave dissatisfaction to players, spectators and club managements.
  2. Referees were subjected to all known tests; they served a proper apprenticeship before they were elected to the lists, and yet they failed to give satisfaction.
  3. The awarding of a goal or vital decision was a great responsibility carrying with it the fate of League clubs. It was a responsibility in the present state of the game too great for one man.
  4. Foul play would be eliminated, as the referee would be always on the spot and the good player would be enabled to play his natural game.
Mr. Bendle Moore (Derby County), who elicited from the President an opinion that last year’s record of the referees was better than before, contended, against the proposition:
  1. A weak referee would still be weak even if he only had half the field in which to operate.
  2. More use should be made of linesmen – three competent officials working as a team could control any game under the terms of the circular compiled by the Football Association and issued to referees during the recent season.
During the discussion Mr. Sutcliffe, in support, stated that but five of the referees last season were awarded 75 per cent. of marks. The Management Committee received many complaints of weak control, and they had given much consideration to an alternative method of governing the matches. Any system which would achieve quicker and better results would reduce the possibility of injury to players, among other things, and in his judgment[!] dual control would bring this about. He made it clear that no reflection upon the referees was implied by the proposed change. It was the system that was at fault. On a ballot being taken, however, the plan way rejected by 31 votes to 18.“

1971 und um 2000

Auch nach dem 2. Weltkrieg gab es zwei Experimente, wenn auch nicht in der direkten Nachkriegszeit: 1971 kam es zu einem einmaligen Test in England, 2000 in mehreren Profiligen in Italien, Brasilien und drei weiteren, im AGM-Protokoll 2001 nicht genannten Ländern. Der französischen Fußballverband wurde außerdem 1997 ermahnt, bei einem Spiel gegen Schweden zwei Schiedsrichter einzusetzen. (Erst kurz vor dem Spiel, denn sowohl der französische Verband noch die UEFA hatten das IFAB zuvor um Erlaubnis gefragt. Das Gremium hatte allerdings kurz vor der Austragung davon erfahren – daher die Ermahnung.)

Fazit:

Für das Experiment 1971 resümierte Sir Stanley Rous, langjähriger FA Secretary, federführend für die erste große Regelreform 1938 zuständig und in der Nachkriegszeit FIFA-Präsident, in seinem kurz darauf erschienenen Buch „ A History of the Laws of Association Game“, das Ergebnis sei nicht schlüssig („inconclusive“) gewesen. Dennoch dauerte eine Diskussion in den 1970er Jahren an – nicht zuletzt durch Sir Stanley selbst, der die Idee 1971 überhaupt erst wieder ins Rollen brachte. Ein ähnliches Resümee wurde 2001 gezogen: „The experiment has not produced sufficiently positive results and it was agreed to abandon this experiment.“

Der Grund, warum die Experimente mit zwei Schiedsrichtern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht zielführend waren, liegt bei den nicht genügend positiven Ergebnissen. Die Experimente vor dem zweiten Weltkrieg betonen die zu wenigen verfügbaren Schiedsrichter und die doppelt so hohen Kosten.

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